Obdachlos

Einer von vielen Deutschen, für den der Sozialstaat nichts übrig hat.

Autor: Michael P.

Auf den ersten Blick halte ich den Mann, der auf der Parkbank die letzten wärmenden Strahlen der Herbstsonne genießt, für einen Wanderer. Langer grauer Bart, Jacke im Tarnmuster und ein akkurat geschnürtes Marschgepäck. Erst bei näherem Betrachten wird mir gewahr, dass er obdachlos ist. Ein Landstreicher, Tippelbruder, Clochard oder verächtlich Penner – unser Sprachgebrauch ist nicht arm an Bezeichnung für seinesgleichen. Nach anfänglichem Zögern komme ich mit ihm ins Gespräch. Er heißt Thomas, ist Mitte 50. Mit einer überraschend sanften Stimme berichtet er mir aus seinem Leben. Eine ebenso traurige wie typische Verkettung gleichermaßen schuldhafter wie vermeidbarer Versäumnisse. Stress mit den Behörden, Räumungsklage, keine Unterstützung und so endet ein ehemals bürgerliches Leben auf der Straße. Doch Thomas hat sich im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Schicksalsgenossen nicht aufgegeben. Er ist klug genug westdeutsche Ballungszentren zu meiden und tingelt eher durch ländliche Areale und Kleinstädte. Zumindest von Hochprozentigem lässt er die Finger, nutzt jede Gelegenheit, sich selbst und seine karge Habe zu pflegen.

Als ich ihm zum Abschied etwas Geld zustecken will, wehrt er sich vehement. Ich muss es ihm regelrecht aufzwingen. Schüchtern haben meine Kinder unser Gespräch verfolgt, ihnen ist der fremde Mann suspekt. Noch lange nach dieser Begegnung löchern sie mich mit Fragen, warum der Thomas kein zuhause hat und wie es überhaupt sein könne, dass Menschen hier kein zuhause hätten. Und diese Fragen sind keineswegs so naiv wie sie scheinen. Wir leisten uns einen völlig überbordenden Sozialstaat. Einen monströsen Leviathan der über jedem fremdländischen Glücksritter, jedem Schmarotzer und Taugenichts das Füllhorn ausschüttet. Stand die Wiege eines Bittstellers in der Levante, am Hindukusch oder am Horn von Afrika, kennt unsere Großzügigkeit keine Grenzen. In suizidaler Demut hofieren wir die Invasoren wie einst die Ureinwohner Lateinamerikas den spanischen Konquistadoren – das Ergebnis ist bekannt.

Doch für solche wie Thomas sind die sonst so prallen Taschen zugenäht. Für ihn ergötzt sich keine pensionierte Oberstudienrätin am eigenen ehrenamtlichen Gutmenschentum. Man sieht ihn nicht mal – kein anderer der Besucher an diesem Tag würdigt ihn eines Blickes geschweige denn eines freundlichen Wortes. Der Landsmann der kann ruhig da in der Ecke verrecken, dem reicht keiner die Hand. Noch lange stimmt mich die kurze Episode nachdenklich. Und so beschließe ich gemeinsam mit meinen Kindern, dass wir dem Thomas zum bevorstehenden Weihnachtsfest eine kleine Freude bereiten wollen. Wir schnüren ihm eine Tasche mit nützlichen Dingen, die ihm sein entbehrungsreiches Dasein erleichtern. Es braucht etliche Anläufe, bis wir ihn wieder einmal antreffen. Wie erwartet, reagiert er zunächst mit großer Verlegenheit und ich glaube, am Ende sind es die großen Kinderaugen, die ihn seinen Widerstand aufgeben und unser Geschenk annehmen lassen. Wir schießen noch ein Erinnerungsfoto und ich hinterlasse ihm meine Kontaktdaten, falls er mal Hilfe beim Kampf mit den Behörden brauchen sollte. Dann trennen sich unsere Wege.

Ein, zwei Mal sind wir noch an der Stelle gewesen – aber wir haben ihn nicht mehr angetroffen. Jetzt wo die Nächte empfindlich kalt geworden sind, denken wir ab und an ihn. Er hatte gesagt, dass er die Großstadt so lange wie möglich meiden wolle aber es in der Not nicht anders gehe, als dort auf die erwärmten U-Bahnhöfe und andere Refugien auszuweichen – wohlwissend, dass er dort als Eindringling im Revier migrantischer Clans gilt. Die Kinder und ich hoffen, dass er nicht unter die Räder kommt in diesem Winter. Vielleicht meldet er sich mal bei mir, wir würden ihm gerne dabei helfen auf die Beine zu kommen – aber ehrlich gesagt rechne ich nicht damit.