Die innere und äußere Heldenreise

Ob innere oder äußere Reise: Planung und Rüstzeug sind wichtig.

Autor: Michael P.

Bestimmte Grundmuster der menschlichen Seele existieren seit dem Anbeginn unserer Werdung. Strukturen und Prinzipien kultureller Kollektive, die alle Zeitalter überdauern, sich ewig jung in neuem Gewand darbieten und im Kern doch unverändert bestehen. Eines dieser Motive ist die Heldenreise. Es beschreibt einen Urmythos, welcher sich in erstaunlicher Konstanz und Ähnlichkeit epochenübergreifend bei Völkern rund um den Globus wiederfindet. Es ist die Erzählung des Heros, der in seiner Heimat unerwartet mit einer Gefahr, einer gravierenden Veränderung konfrontiert ist. Zunächst sträubt er sich dagegen, seinem Schicksal zu folgen, aber durch den Impuls eines Mentors gibt er schließlich dem Ruf des Abenteuers nach. Er überschreitet die Schwelle in eine fremde Welt und stellt sich wechselnden Herausforderungen. Unverzichtbar für die Heldenreise ist der Abgrund – am absoluten Tiefpunkt droht der Heros zu scheitern. Alle Hoffnung scheint verloren. Gelingt es dem Protagonisten nicht, sich aus der Umklammerung des Abgrundes zu befreien, wird er unweigerlich vergehen. Seine Reise endet in der Katastrophe. Nur wenn er diese größte Prüfung meistert, wird er wiedergeboren. Nur dann erhebt er sich aus der Abys. Erst jetzt steigt er endgültig zur mythischen Heldenfigur auf. Seine Reise vollendet sich, wenn er über diverse Stationen schließlich in die Heimat zurückkehrt und sich diese neu aneignet. Der Held ist ein anderer als der, der aufbrach. Tief geprägt von seinen Abenteuern und Erlebnissen ist ihm das Vertraute fremd geworden. Er ist über die Daheimgebliebenen hinausgewachsen und kann sich nicht mehr in seine frühere Rolle fügen. Entweder herrscht er von nun an oder wendet sich von der Gemeinschaft ab, um in der Einöde Frieden zu finden.

Der amerikanische Autor Joseph Campell erkannte dieses Motiv und beschrieb die Heldenreise 1949 in seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“. Es gilt noch stets als Standardwerk der Mythenforschung und findet ungebrochen große Beachtung. Der oben skizzierte Ablauf lässt sich mit ungezählten Beispielen belegen, vom Gilgamesch-Epos über die Odyssee bis hin zu den Überlieferungen aus der nordischen Edda. Auch moderne Narrative greifen auf das stets konstante Muster der Heldenreise zurück – egal ob Herr der Ringe, Harry Potter oder Krieg der Sterne. Schon bei oberflächlicher Betrachtung moderner Drehbücher und Romane fällt auf, wie stereotyp immer wieder die gleichen Handlungselemente folgen. Marvel oder Matrix – es spielt keine Rolle. Stets bricht ein Protagonist auf eine Abenteuerreise auf, stets muss er den tiefsten Abgrund durchschreiten, stets kehrt er am Ende ruhmreich zurück.

Das Motiv der Heldenreise ist somit ein allgegenwärtiges Prinzip, welches sich meiner Meinung nach auch auf der biographischen Ebene des Individuums nachvollziehen lässt. Natürlich eignet sich nicht jeder Lebensweg zum Heldenstoff – aber wie steht es mit demjenigen, der eine schwere Krankheit besiegt hat? Ist der Kampf um die eigene Gesundheit nicht auch eine Form von Heldenreise? Was ist mit großen persönlichen Krisen, deren Überwindung den Einzelnen über sich hinauswachsen lässt, ihn läutert und ihn sein volles Potential an Körper und Geist entfaltet? In der griechischen Antike bestand für dieses Phänomen der Begriff Apotheose, der sich mit Vergöttlichung übersetzen lässt. Ein Motiv, welches sich in vielen religiösen und spirituellen Offenbarungen wiederfindet. Die Gottwerdung im Inneren ist etwas, dass mancher anstrebt. Sie vollzieht sich aber nicht in einem komfortablen Bereich. Sie erfordert Disziplin, Entbehrung, Risikobereitschaft gleichermaßen wie den Willen Erkenntnis zu mehren, Glaubenssätze zu hinterfragen und in unbekannte Territorien vorzudringen. Kurzum – es sind exakt die Qualitäten die auch über den Erfolg der mythischen Heldenreise entscheiden.

Und vielleicht lässt sich diese Struktur ebenfalls auf Völker und Nationen abstrahieren. Ist denn gerade der Aufstieg und Untergang des deutschen Volkes über die Jahrhunderte betrachtet nicht das Paradebeispiel einer kollektiven Heldenreise? Haben wir uns nicht aus dem Dunkel der Geschichte erhoben, sind auf eine abenteuerliche Queste aufgebrochen, die von zahllosen Triumphen und Katastrophen gezeichnet ist? Stehen wir möglicherweise als Volk seit Jahrzehnten in jenem totalen Abgrund, welcher uns entweder für immer verschlingt oder uns wiedergeboren und somit erneuert ausspeien wird? Mir scheint die Analogie zumindest in groben Zügen legitim. Und wenn sie zutrifft, dann leiten sich daraus in meinen Augen zwei Lehren ab: Zum einen ist die Lage der Deutschen verheerend und schier aussichtslos. Man darf sich keiner Illusion hingeben, es gibt in der Heldenreise keine Erfolgsgarantie – viele scheitern im Abgrund und sehen die Heimat niemals wieder. Zum anderen aber dürfen wir doch hoffen, dass das Gegenwärtige nicht das Ende darstellt, dass es uns mit den beschriebenen Qualitäten gelingen kann uns zu erheben, die Fesseln des Schicksals abzustreifen und den mühsamen Pfad aus der Finsternis einzuschlagen. Ob am Ende auf uns Vernichtung oder Wiedergeburt wartet, beeinflussen wir selbst durch unser Handeln.