Die Stimme des Blutes
Autor: Michael P.
Der kühle Bergsee in den Vogesen verspricht an diesem heißen Hochsommertag Erfrischung. In dem überschaubaren Strandbad hat sich neben mir eine Familie eingerichtet. Augenscheinlich stammen sie ursprünglich aus Süd-Indien. Ein Ehepaar um die 60 mit ihrer Tochter sowie dem Schwiegersohn und einem Enkelchen. Stark sind die ethnischen Kennzeichen ihrer Herkunft bei diesen Menschen ausgeprägt. Die Haut schwarz wie Ebenholz, tiefdunkle Augen und Haare. Sie tragen auffälligen Goldschmuck, wie es in ihrem Kulturkreis Tradition und Sitte ist. Sie sind angenehme, ruhige Nachbarn an diesem Nachmittag. Nur der Schwiegersohn fällt aus dem Bild, der ist europider Franzose. Ein schlaffer Typ um die dreißig, überdreht und zugleich ohne innere Spannung. Eben ein typischer Vertreter seines Jahrgangs, wie wir sie auch hierzulande im Überfluss antreffen.
Das Enkelchen trägt entsprechend das Erbe beider Eltern. Im Prinzip kein außergewöhnlicher Anblick dieser Tage und nichts, was meine Aufmerksamkeit normalerweise auf sich ziehen würde. Doch dann fällt mir der Blick des Großvaters auf. Da ist eine Traurigkeit und Distanz in seinen Augen, immer wenn er auf seinen Enkel schaut. Im Gegensatz zum Gatten seiner Tochter, ist er ein schneidiger Mann, der auch im fortgeschrittenen Lebensalter noch Autorität ausstrahlt. Zweifellos ist er sehr stolz auf das Erbe seines Volkes, spürt sehr bewusst das Blut seiner Ahnen in den eigenen Adern. Seine Tochter ist ganz nach seinem Vorbild geraten, aber sein Enkel scheint ihm fremd zu bleiben. Viel zu hell ist dessen Haut, viel zu wenig ähnelt er Mutter und Großeltern. Viel zu deutlich der Bruch einer vermutlich viele Generationen überspannenden Blutlinie. Ich kann den Mann gut verstehen. Die Vorstellung, sich im Antlitz seiner Kinder und Kindeskinder nicht wieder zu erkennen, mutet mir schrecklich an. Natürlich bemisst sich der Wert eines Menschen nicht an den ethnischen Einflüssen, die sein Wesen und sein Äußeres prägen. Aber ist es nicht verständlich, dass man danach strebt, die Unterschiedlichkeit der Völker und Rassen zu erhalten – mit ihren jeweiligen Eigenheiten, Besonderheiten und Reizen? Ist es verwerflich, dass der Großvater gerne von Außenstehenden für einen Verwandten gehalten werden will, wenn er das Kind im Arm wiegt? Ist es ein Verbrechen, dass er in den Augen, in der Mimik, in der Physiognomie gerne die eigenen Vorfahren entdecken möchte?
Deutlich höre ich vor meinem inneren Ohr den wutgeifernden Schrei der Toleranten und Erleuchteten: RASSISMUS. Wie kann es der Alte wagen, die Vermischung seines Jahrtausende währenden Erbes nicht als große Errungenschaft zu zelebrieren? Sein allochthoner Hintergrund mag ihm ein wenig Schutz gewähren – als Weißer gäbe es von vorneherein kein Pardon. Aber darauf sollte er sich im Zweifelsfall nicht berufen, wo die Weltverbesserer an ihr Werk gehen, den universellen Einheitsmenschen zu erschaffen, dulden sie keinen Widerspruch.
Es gibt ja schließlich keine Rassen, Geschlechter oder überhaupt irgendwelche körperlichen Merkmale. Alle Menschen sind gleich, weil sie gleich sein sollen. Optisch, ethnisch, identitär. Jegliche Unterschiede sind erstens nur vermeintlich und zweitens reine Konstruktionen, die es mit aller Härte gleichzuschalten gilt. Wehe dem, der die Integrität seines Menschenschlags nicht bereitwillig preisgibt! Die Propagandisten dieser Ideologie sind blind für die Schönheit der Vielfalt, die der Schöpfung innewohnt.
Noch lange, nachdem ich mein Handtuch eingerollt und den schmalen Strand verlassen habe, hängen meine Gedanken diesem Mann nach. Vermutlich wird keiner seiner zukünftigen Nachfahren ihm mehr ähneln. Ich kann seinen traurigen Blick gut verstehen.