Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (Dr. Nicholas Goodrick-Clarke)

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Autor: Michael P.

Das ausgehende 19te Jahrhundert brachte eine Blüte des Okkultismus hervor, also der Lehre vom Verborgenen. Unzählbar waren die Ideen und Ansätze, die sich mit magischen Geheimnissen, verschüttetem Wissen uralter Hochkulturen, archaischen Logen und Bünden befaßten. In Deutschland erhielt diese Bewegung nach dem Trauma des verlorenen ersten Weltkriegs besonderen Schwung und manifestierte sich auf unterschiedlichen Ebenen in der Politik sowohl der Weimarer Republik als auch in der des Dritten Reiches.

Nicholas Goodrick-Clark war ein anerkannter britischer Religionswissenschaftler und Historiker, dem mit seiner 1985 erstmals erschienen wegweisenden Abhandlung „Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ das Verdienst zukommt, Klarheit und Übersicht in diese verworrenen und mysteriösen Zusammenhänge zu bringen. Ironischerweise scheint es sich trotz stetig wachsender gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit dem NS in der Gegenwart, zum fundierten Faktenwissen über denselben und seiner Vorgeschichte, reziprok proportional zu verhalten. Gab es in den 70er Jahren noch eine – teils eher sensationslüsterne – literarische Beschäftigung mit esoterischen und okkulten Phänomenen nationalsozialistischer Protagonisten, herrscht dazu heute breitestes Unwissen. Umso wertvoller ist die nüchterne, detaillierte und äußert gewissenhaft recherchierte Publikation von Goodrick-Clarke.

Mit typisch britischem Understatement geht er das sensible Thema weder glorifizierend noch dämonisierend an. Viel Raum nehmen zwei fast schon eigenständige Biographien der beiden zentralen Figuren der Ariosophie ein: Guido von List und Lanz von Liebenfels. Unter Ariosophie versteht man eine gnostisch-dualistische Religionsvorstellung, also eine, die einerseits von der Offenbarung geheimen Wissens und andererseits von einem ewigen Kampf der Mächte des Lichts gegen die der Finsternis geprägt ist. Bezugspunkt der Ariosophen ist eine – teilweise sehr unterschiedlich definierte – arische Ur-Rasse. Guido von List war die erste maßgebende Persönlichkeit auf diesem Gebiet. Der antisemitische Österreicher hat – wiederum beeinflußt von okkulten Strömungen aus dem angelsächsischen Raum – viel Energie auf die Wiederentdeckung urgermanischer Bräuche und Überlieferungen verwandt, die bei ihm immer im starken Kontrast zum Judentum und Christentum standen. Er stiftete den Armanen-Orden, legte ein eigenes Runen-Futhark fest und etablierte unter anderem den Begriff der Halgadome als Bezeichnung für heilige Kraftorte. Von Lists Schaffen hat zur Jahrhundertwende die Sehnsucht einer ganzen Generation von Menschen nach spiritueller Erfüllung in einer zunehmend industrialisierten und entzauberten Welt gestillt.

Unter seinen Verehrern sticht sein etwa 30 Jahre jüngerer Landsmann Lanz von Liebenfels besonders hervor, der wieder eigene Akzente setzte. So war von Liebenfels als ehemaliger Mönch eher um die Symbiose der europäischen Wurzeln mit einem arianischen Urchristentum bemüht. Auf ihn geht der Orden der neuen Templer (ONT) zurück, der wiederum einer Reihe weiterer Organisationen wie dem Germanenorden als Vorbild diente. Ebenfalls relevant war die Thule-Gesellschaft, welche in der Entstehungszeit der NSDAP teilweise eine personelle Überschneidung mit letzterer hatte und deren frühe Akteure auf verschiedene Weise geprägt hat – nicht zuletzt durch die Verwendung der Swastika, welche allerdings bereits im 19ten Jahrhundert bei fernöstlichen Esoterikern sehr beliebt war. Inwiefern okkulte Einflüsse den weiteren Verlauf der politischen Geschichte beeinflußt haben, bleibt heftig umstritten. Klar ist, daß Heinrich Himmler hierfür sehr offen war und sich im engsten Umfeld mit dem Medium und Seher „Weisthor“ umgab. Die Ordensstruktur der SS, von der Junkerschule Wewelsburg über eigene Riten bis hin zu den Ehrenzeichen ist ebenfalls stark spirituell durchdrungen und atmet den Geist der oben genannten Autoren.

Hitler selbst war hier aber wohl deutlich skeptischer. Zwar scheint er sich in jungen Jahren intensiv mit der „Ostara“, einem weitverbreiteten Periodikum Lanz von Liebenfels, befaßt zu haben, die Bezugnahme auf ein Ur-Atlantis, auf übersinnliche Halbgottwesen oder gar die Theorie der hohlen Erde, waren mit seiner Weltanschauung vermutlich jedoch nicht entschlußfähig. Es bleibt also schwer zu bestimmen, wie unmittelbar die Einflußnahme war. Zum Verständnis der geistesgeschichtlichen Entwicklung  sei es aber jedem offen interessierten Menschen ans Herz gelegt, dieses Buch zu lesen. Zumal es einen verblüffend vielseitigen und tiefschichten Kosmos an heidnischen, vorchristlichen und urtümlichen Vorstellungen öffnet. So wird einem bewußt, daß die Suche nach unseren Wurzeln keineswegs nur eine aktuelle Modeerscheinung ist, sondern im Gegenteil bereits vor 150 Jahren mit einer Akribie, Kreativität und Ernsthaftigkeit betrieben wurde, von der wir heute leider weit entfernt sind. Das in der deutschen Geschichtswissenschaft zu diesem Komplex nichts veröffentlicht wird, vermag wenig zu erstaunen; ebenso, daß über die – sicher nicht unumstrittenen – aber doch nachhallenden Ansichten der Ariosophen selbst bei neuheidnischen Freigeistern eisern der Mantel des Schweigens gehüllt wird.

Egal zu welchem Urteil der Einzelne gelangt, er kann es nur auf der Grundlage von Erkenntnis fällen. Einmal mehr ist es ein Fremder, ein Brite, der uns Deutschen diesen wertvollen Überblick über einen wesentlichen Teil unserer eigenen Geschichte schenkt. Wir sind gut beraten, dieses Geschenk anzunehmen!