Michael Kühnen – Ein deutsches Schicksal
Michael Kühnen: Ein deutsches Schicksal – Die Biographie
Autor: Michael P.
Auch über 30 Jahre nach seinem Tod umweht die Person Michael Kühnen noch ungebrochen ein eigenartiger Mystizismus. Wer ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens erlebt hat, ist inzwischen in mindestens in den Fünfzigern. Für Nachgeborene ist der Sohn aus gutbürgerlichen Verhältnissen eine historische Figur. Ihm haftet etwas zutiefst Tragisches an: Einerseits ein brillanter Rhetoriker, charismatischer Anführer und visionärer Vordenker. Andererseits ein zutiefst Zerrissener, menschlich Gebrochener und persönlich Gescheiterter. Michael Kühnen ist das Gesicht des zeitgenössischen Nationalsozialismus. Kulminationspunkt einer aufs Äußerste zergliederten Bewegung, die über Jahrzehnte erbitterter im Inneren um die Deutungshoheit der eigenen Weltanschauung gerungen hat, als dass sie es mit ihren unzähligen äußeren Feinden aufnehmen konnte. Kühnen ist der Innbegriff der Paria. Verstoßen zur Unperson würde ihn die postmoderne Geschichts- und Politikwissenschaft am Liebsten endgültig in den Abgrund des Vergessens schleudern.
Dass dieses Vorhaben scheitert, ist das Verdienst von Werner Bräuninger, der mit seiner Kühnen-Biografie das einzige vollumfängliche Werk auf diesem Feld vorlegt. Bräuninger versteht es, über das Biografische hinaus, detailliert und facettenreich aufzuzeigen, wie untrennbar verwoben die gesamte politische Bewegung mit Kühnen ist. So ist sein jüngst in zweiter Auflage erschienenes Buch im Kern eine messerscharfe Analyse der Geschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Er lenkt damit den Blick auf ein Themenfeld, dass selbst Rechten vielfach nicht vertraut sein dürfte. Für heutige Aktivisten mag es unvorstellbar anmuten, mit welcher ideologischer Unerschütterlichkeit in den Siebzigern und Achtzigern für die Rehabilitation des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa gerungen wurde – sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf parteipolitischer Ebene. Manches mag aus heutiger Sicht beinahe clownesk anmuten, etwa Aufzüge in phantasievollen Uniform-Interpretationen. Gleichwohl zeugt es von einem soweit toleranten gesellschaftlichen Klima, in dem Dergleichen zumindest eine Nischenexistenz gewährt war. Aber wer war dieser junge Rheinländer, katholisch geprägt, engagierter Gymnasiast und vielversprechender Offiziersanwärter? Was trieb ihn an, alle Konventionen über Bord zu werfen und statt eines saturierten Lebens in der alten Bundesrepublik ein ewiges Dasein als Gehetzter, als Besitzloser und über viele Jahre auch als Gefangener freiwillig zu wählen?
Selbst seine ungezählten inneren und äußeren Feinde attestierten Kühnen einen bestechenden Intellekt, in Debatten wortreich und überzeugend, ein Meister der Inszenierung, der sich geschickt in Szene zu setzen wusste. Welche publizistischen und propagandistischen Möglichkeiten hätten diesem Mann mit den Mitteln moderner sozialer Medien erst offen gestanden? Bräuninger hat einen nahezu unerhörten Aufwand betrieben, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Er sprach und korrespondierte mit dutzenden Weggefährten und Zeitgenossen, durchforstete Staatsarchive und Briefwechsel und trug so mit großer Akribie und ebensolchem Fleiß über viele Jahre hinweg das lückenlose Bild des Michael Kühnen zusammen. Er betritt damit als Autor Neuland, denn es existiert so gut wie keine Literatur über den „rechten Rudi Dutschke“. Bräuningers Verdienst als Literat und Forscher ist gleichermaßen hoch anzurechnen, wie es leider auch vom Mainstream ignoriert wird. Zu groß ist vielleicht die Furcht, dass der Funke, der Kühnen beseelt und bis zu dessen bitteren Ende angetrieben hat, ein geistiges Zundernest entfachen könnte.
Dabei wahrt Bräuninger uneingeschränkt die konsequent nüchterne Distanz des unvoreingenommenen Historikers. Er blendet nicht die Schattenseiten aus. Unaufgeregt beleuchtet er die große menschliche Tragik im Leben Kühnens, die in seiner AIDS-Erkrankung und dem viel zu frühen Tod mit nur 35 Jahren gipfelt. Zugegeben verlangt dieses Buch dem Leser ein hohes Maß an Konzentration und auch eine gewisse Beharrlichkeit ab. Für eine hastige, oberflächliche Lektüre ist Bräuningers Porträt viel zu minutiös. Wer sich aber ein nahezu unbekanntes Kapitel deutscher Geschichte erarbeiten will, wer aus neutraler Sicht die weltanschauliche Entwicklung des Nationalsozialismus nach Ende des zweiten Weltkrieges durchdringen möchte, der findet keinen besseren lebenden Lehrmeister als Werner Bräuninger.