Der Wald (Ernst Wiechert)
Autor: Michael P.
Atemlos übermannt dieser Roman den Leser. Es scheint, als habe ihn Ernst Wiechert in einem einzigen, rastlosen Rausch verfasst. Exakt 100 Jahre alt ist dieser wortgewaltige Wahn, mit dessen schillernder Sprache und epochaler Metaphorik selbst die beste Gegenwartsliteratur nicht mithalten kann. Krieg und Heimat. Leben und Vergehen. Rache und Opfergang. Sowie immer wieder das namensgebende Geheimnis des Waldes sind die Pole, um die Wicherts Erzählung kreisen. Seine Darstellung ist so fesselnd und so glaubhaft, weil sie tatsächlich Erlebtes widerspiegelt. Als Front-Offizier des Ersten Weltkrieges und Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse, muss der Autor nicht fabulieren, wenn er versengende Feuerströme beschreibt oder die tödliche Kürze des Schusswechsels. Er schöpft aus seinem eigenen Leben, wenn er hier die Geschichte eines Kriegsheimkehrers ausbreitet, der sein Erbe als Waldbesitzer in Masuren antritt.
Sein Erbonkel Opfer eines Mordanschlages. Seine beiden Cousinen obliegen nun ebenso seiner Obhut, wie jener unbetretbare Wald, den mit aller Härte abzuschirmen er sich verpflichtet. Jener Wald, dem Wiechert ein unerreichtes Denkmal setzt. Die gradlinige Handlung tritt hinter den üppigen Naturbeschreibungen zurück, die immer wieder in ihren Bann schlagen und sich einer analytischen Rezension entziehen. So übervoll sind diese Bilder, dass ihr Zauber die Seele berührt und ein tiefes Empfinden auslöst. Traum und Wahn, Erinnerung und Wirklichkeit verschwimmen zusehends – deren Unterscheidung verliert an Bedeutung. Der Wald verkörpert das Unerklärliche, das Urtümliche und das natürlich Göttliche. Er ist der lebensspendende Quell und der schutzgewährende Hain. Zugleich bedeutet seine Schändung den infernalischen Untergang. Schmerzhaft erinnert die lebhafte Skizzierung das spätere Ende Dresdens und anderer deutscher Städte. Hier beweist der Schriftsteller prophetische Gabe.
Wiechert darf aufgrund gewisser Anpassungsschwierigkeiten nach 1933 gemäß den Kriterien des politisch korrekten Kulturbetriebes wohl als unverdächtig gelten. Nicht, dass dies für eine Rezension des Dritten Blickwinkels relevant wäre, wir richten den Blick stets nur auf Werk und Autor und maßen uns keine selbstgefälligen Urteile Spätgeborener über den zeitgenössischen Kontext an. Es sei aber erwähnt, um auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass hier ein Autor selbstverständlich ohne Ansehen der weltanschaulichen Einordnung Würdigung erfährt. Das unterscheidet uns von den staatlich subventionierten kulturmarxistischen Propaganda-Kanälen der Gegenseite.
Was bei all der Fülle an Motiven am Ende nachhallt ist die große Traurigkeit ob der verlorenen Heimat. Ein Gefühl, welches auch nach einem Jahrhundert in Anbetracht der trüben Gegenwart nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat.
Viele weitere Worte ließen sich über „Der Wald“ verlieren, sie würden dem Mysterium dieser Lektüre aber nichts mehr hinzufügen, die im Idealfall unter Baumwipfeln und in einem Zug erfolgt.