Das religiöse Artbild der Indogermanen und der Allgott der Arier

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Autor: Michael P.

„Wenn man Gott erkannt hat, wird man von allen Fesseln frei“ – die kurze Schrift mit dem leicht sperrigen Titel „Das religiöse Artbild der Indogermanen und der Allgott der Arier“ ist nicht arm an markanten Sätzen, doch der oben zitierte hat sich mir besonders ins Gedächtnis gebrannt. Die Schrift ist ein 1937 publizierter Auszug aus dem Gesamtwerk des bekannten deutschen Indologen und Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer. Hauer war in den zwanziger und dreißiger Jahren eine schillernde und keineswegs unumstrittene Figur innerhalb der deutschen Glaubensbewegung. Früh sammelte er begeisterte Anhänger um sich in seinen verschiedenen Bünden, die in der Tradition der klassischen Jugendbewegung standen, aber das Ziel verfolgten an eine tiefe, vorchristliche Spiritualität und Welterkenntnis anzuknüpfen. Unter seinen prominenteren Eleven fand sich beispielsweise Hermann Hesse. Hauer war ein profunder Kenner des altertümlichen Indiens, er übersetzte zahlreiche Werke aus dem Sanskrit und verbrachte mehrere Jahre auf dem indischen Subkontinent. Wer also zu seinem Büchlein greift, der sollte entweder ein erhebliches Vorwissen mitbringen oder damit leben, dass er nicht jede Tiefe des Textes erkunden wird. Hauer setzt bei seinem Leser erhebliches Verständnis voraus, was manche heutige Rezipienten überfordert. Auch ich gebe zu, dass ich nicht jeden Vers aus den Atharvaveden oder aus den diversen Überlieferungen und Liedern begriffen habe. Aber das erachte ich nicht als schädlich, denn es hindert mich nicht daran, einige grundlegende Einsichten und Erkenntnisse in Hauers Ausführungen zu erkennen, die an ihrer Gültigkeit und Weisheit nichts eingebüßt haben. Im Kern steht die Frage nach der religiösen Vorstellung der Indogermanen bzw. Indoarier, die Hauer – im Konsens mit modernen Autoren – für die Begründer sowohl der ureuropäischen als auch der frühesten indischen Kulturen erachtet. Insofern gibt es eine klare Kontinuität in der Geistesgeschichte beider Weltregionen die sich den gemeinsamen Wurzeln zum Trotz in vielen Jahrtausenden in ganz unterschiedlicher Blüte entfaltet haben. Ich räume ein, dass mir die große Indien-Begeisterung vieler Zeitgenossen immer abgegangen ist. Zu fremd war mir dieser Kontinent und zu fern seine Menschen. Zu wenig anknüpfungsfähig schienen mir die westlichen Entrückten und Asketen, die ihr Heil lieber weit weg ihrer Heimat suchen, als sich auf das eigene zu besinnen. Und ich halte Hauer zu Gute, das er mir zumindest den Schleier über dieses mysteriöse Indien ein kleines Stück gelüftet hat.

Im ersten Teil seiner Abhandlung beschreibt er zunächst religionstheoretische Zyklen, die Kulturkreise seiner Definition zufolge zwingend durchlaufen. Das ist keineswegs so trocken, wie es klingt, sondern im Gegenteil hochinteressant. Für mich ist der wesentliche Kern, zu dem der Autor vordringt, das Gegenüberstellen des indogermanischen und des semitisch-orientalischen Glaubenskonstruktes. Wenn man bedenkt, dass Letztgenannte seit 2.000 Jahre die Geschicke unseres Erdteils mit Feuer und Schwert prägen, wird deutlich, warum diese Frage relevant bleibt. Da macht es auch keinen Unterschied, dass dem im Untergang befindliche Christentum gegenwärtig ein anderer Wüsten-Kult hierzulande den Rang abläuft. Man erkennt diesen Unterschied bereits am Vokabular. In der semitisch-vorderasiatische Welt ist von „Herr“, „Knecht“, „Gebieter“ oder „Sklave“ die Rede. Hier herrscht eine tiefe Gottesfurcht, die dem Erbsünder Gnade und Erbarmen und somit Rettung vor Höllenqualen nur in der bedingungslosen Unterwerfung verspricht. Im Indogermanischen gilt eine völlig andere Gottesbeziehung, eine „selbstverständliche Freundschaft bis zur Liebesehrfurcht“, wie es Hauer formuliert, die sich schon an der fundamental anderen Gebetshaltung ableiten lässt. Der vorderasiatische Semit kniet oder liegt gleich ganz im Staub. Der Indogermane steht aufrecht mit weit in den Himmel ausgestreckten Armen, wenn er mit seinem Schöpfer zu sprechen hat. Nichts desto trotz kennt der indogermanische Mensch seinen Platz und neigt nicht zur Überhöhung seiner selbst. Der radikale semitische Dualismus ist ihm ebenso fremd, wie die daraus folgende übersteigerte – und in der Regel höchst heuchlerische – moralische Sittlichkeit. Der indogermanische Kosmos besteht nicht nur aus schwarz und weiß, aus Erlösten und Verdammten. Dieser Todessehnsucht stellt er eine lebendige „Weltfrömmigkeit“ gegenüber, in der alles verwoben und in ewiger Wiederkehr verbunden ist. Gott und Welt sind eins. Der Tod ist keine Strafe, sondern das „ewige Gesetz, majestätischer Offenbarung des waltenden Lebens, das in unendlicher Zeit auf- und abwogt in Geburt und Sterben.“ So sehr ich es auch versuchen würde, diesem Satz könnte ich nichts mehr hinzuzufügen!