„Eine bleiche Erinnerung“ - Novelle von Werner Bräuninger

95930201.jpg

Autor: Michael P.

„Was wäre, wenn“ - es ist diese Frage, die Schriftsteller zu spannenden gedanklichen Experimenten einlädt. Es ist auch der Ausgangspunkt von Werner Bräuningers Novelle „Eine bleiche Erinnerung“. Es ist vielleicht nur eine Banalität, die den Lauf der Weltgeschichte verändern könnte. Und so erleben wir zu Beginn der Innenhandlung, welche Gattungs-konform in einen Rahmen gekleidet ist, den jungen Thomas Mann. Jener literarische Gigant, Nationaldichter der Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein dummes Mißgeschick widerfährt ihm in der Frühphase seines Schaffens. Das Manuskript zu „Die Buddenbrooks“ geht auf dem Postweg verloren. Sein künstlerischer Durchbruch unterbleibt und er stürzt in eine tiefe Sinnkrise, die sein Schicksal in eine völlig andere Richtung lenkt. Rastlos und gebeutelt flieht er aus Scham vor dem eigenen Scheitern aus dem bürgerlichen Kreisen seiner reichsdeutschen Heimat. Jahre vergehen und es verschlägt ihn   schließlich nach Wien, wo der inzwischen Mittellose seinen einzigen Trost in den Opern Richard Wagners findet. Dort begegnet ihm ein junger Mann, mit dem er zufällig die gleiche Unterkunft teilt. Dieser ebenfalls Erfolglose und von den eigenen Dämonen Getriebene ist Adolf Hitler. Der dennoch ungebrochen an der eigenen Hybris festhält und fieberhafte Pläne zur Umgestaltung ganzer Städte skizziert. Die beiden Ungleichen entwickeln eine vorsichtige Freundschaft, trotz der offenkundigen Unterschiede. 15 Jahre Altersunterschied trennen sie. Der Ältere verzweifelt an der eigenen Homosexualität, während der Jüngere nach Askese strebt. Wo Hitlers flammender Antisemitismus auch von alltäglichen Kompromissen in Form von wirtschaftlichen Beziehungen zu Wiener Juden nicht getrübt wird, sehnt es Mann nach der seelischen Größe im Menschen, was ihm immer wieder Schwierigkeiten mit dem Dogmatismus des Freundes bereitet. Beide eint zunächst die fanatische Verehrung von Wagners Musik und im weiteren die tiefe Liebe zum deutschen Volk und die Verachtung gegenüber den allgegenwärtigen Verfallserscheinungen der verblühenden Habsburger-Monarchie. Diese treibt sie schließlich ins gemeinsame Exil nach München. Hier beginnt die schleichende Entzweiung. Mühsam fügt sich Hitler in eine bürgerliche, berufliche Existenz, ohne dabei seine radikale Weltanschauung aufzuweichen. Mann hingegen hinterfragt immer stärker die unverrückbaren Fundamente des Denkens seines Mitbewohners. Er unternimmt letzte, aussichtslose Versuche, mit einer konventionellen Ehe die gesellschaftliche Paria zu überwinden. Am Vorabend des großen Krieges sehen beide das vernichtende Völkerringen am Horizont aufziehen, wie ein gewaltiges Gewitter, dessen urplötzliche Entladung sich ihnen – wie Millionen anderer Europäer – zunächst als eruptive Erlösung zueignet. Kurz darauf schließt der Text, dessen genaues Ende der Rezensent nicht offenbaren möchte. Nur soviel – Bräuninger wird dem Anspruch der Gattung Novelle in vollem Umfang gerecht, die Erwartungshaltung des Lesers abschließend ins Leere laufen zu lassen.

 

Wie aber ist „Eine bleiche Erinnerung“ einzuordnen? Zunächst ist es Bräuningers, der sich als Sachbuchautor über Jahrzehnte einen Namen gemacht hat, erste fiktionale Veröffentlichung. Zwischenzeitlich hat er allerdings mit „Was wir lieben mussten“ fulminant nachgelegt. Die vorliegende Novelle besticht gleichermaßen durch eine übersatte Sprache, die hervorragend und authentisch den Geist der Handlungsepoche heraufbeschwört, sowie durch eine fachliche Akribie, die bis in kleinste Details geschickt biographisch Überliefertes einwebt. Hier zeigt sich, dass Bräuninger ein exzellenter Kenner deutscher Geschichte, Literatur, Musik und Philosophie ist – anders wäre diese Präzision nicht möglich gewesen. Ein Umstand der dem Autor um so höher anzurechnen ist, als dass sich dies dem unachtsamen Leser nicht zwingend entschlüsselt, was die Rezeption nicht per se stört. Dem Aufmerksamen offenbart sich aber ein Kosmos an Referenzen und Bezügen, die vielfältig zu weiterer Recherche anregen. Handwerklich darf man dem bereits 2019 erschienen Werk folglich höchste Reife und Güte attestieren. Die gewählte Grundprämisse ist ebenso schneidig wie faszinierend. Bräuninger wagt sich daran, auf dem Werdegang dieser deutschen Schicksalsgestalten die Weichen umzustellen. Die Folgen für die Geschichte unseres Volkes, ja der gesamten Menschheit sind gravierend. Die Spannung vermag der Verfasser über 170 Seiten aufrecht zu erhalten. So bleibt am Ende die Frage, warum bislang dieser beherzten Veröffentlichung augenscheinlich die verdiente Würdigung verwehrt geblieben ist. Die Vermutung liegt nahe, dass dies nicht der Güte des Textes geschuldet ist, sondern der Kühnheit seines Sujets. Natürlich ist nicht Thomas Mann das Problem, sondern Adolf Hitler, den Bräuninger mit dem Tiefgang eines innerlich Zerrissenen porträtiert, ohne ihm die menschlichen Züge zu nehmen. Hitler aber ist so unverrückbar als transzendenter Anti-Messias im kollektiven Narrativ der späten Bundesrepublik verankert, dass es für eine alternative Herangehensweise keinen Raum geben darf. Hätte sich Bräuninger literarisch angreifbar gemacht, hätte man „Eine bleiche Erinnerung“ mit Sicherheit zerpflückt. Da er dem Feuilleton aber eine offene Flanke verwehrt, reagiert der gleichgeschaltete Kulturapparat mit bleiernem Schweigen. Vielleicht gelingt es der unerschrockeneren Gegenöffentlichkeit mit ihren bescheidenen Mitteln den Leserkreis zu erweitern – es würde sich allemal lohnen.